Das was wirklich zählt
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Xiaoshanzi2013 alias Piet Trantel – 13. April 2013
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Das was wirklich zählt, ist Familie – und ein Platz in der Gesellschaft.
Wie jedes Jahr ist das Qingming-Fest wieder ein Anlass für die sechs Geschwister, sich auf dem Friedhof zu treffen und das Grab ihrer Eltern aufzufrischen.
Wie verabredet, fährt der älteste Sohn mit seinem Kleintransporter auf den Parkplatz des grössten Friedhofes der Stadt, der nach dem Mützenberg benannt ist und im lokalen Radio damit wirbt, dass er 24 Stunden bewacht wird und andere Friedhöfe illegale Bestattungen durchführen.
Zwei Minuten später kommt der dritte Sohn in seinem neuen metallic-grauen Ford. Er bringt seine Frau und zwei der drei Schwestern mit.
Die älteste Schwester konnte nicht kommen. Sie findet immer Ausreden. Dieses Mal ist sie sehr beschäftigt, obwohl jeder weiss, dass sie jede Menge Zeit hat, seitdem sie pensioniert ist. Aber vielleicht sucht sie ja wirklich einen Nebenjob als Krankenschwester, denn um die Schwiegertochter und die Enkelin muss sie sich nicht mehr kümmern, nachdem ihr Sohn sich kurz nach der Geburt des Kindes hat scheiden lassen. Seine Ehe war ohnehin nur Fassade, die schneller als die der Neubauten abgebröckelt ist. Er sucht kurzfristige gleichgeschlechtliche Partnerschaften und spricht immer offener darüber.
Der zweitälteste Sohn, der dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist, putzt inzwischen schon den Grabstein. Er war zeitlebens beim Militär und ist seit ein paar Jahren auch pensioniert. Im fiel schon wegen seines Aussehens und weil er der Lieblingssohn des Vaters war, die Aufgabe zu, das Gedenken an die Eltern in Ehren zu halten. Er ist schon drei Tage vorher ohne seine Frau, die auch beim Militär war und gerade in Rente gegangen ist, aus der Hauptstadt der Provinz angereist. Seine Frau geht lieber allein shoppen und fühlt sich in der Kleinstadt nicht so wohl. Ausserdem hat sie nicht die beste Beziehung zur Familie ihres Mannes. Sie schiebt deswegen eine Krankheit vor.
Nachdem Sohn Zwei den Grabstein mit Wasser und einem eigens für diesen Zweck neu gekauften hässlich blauen Nylonlappen sauber geputzt hat, werden den Eltern Teigtaschen, Tomaten, Kiwis, Orangen, Mangos und Bananen auf dem Grabsockel angeboten, die Räucherstabchen in einem Windfang angezuendet und in eine mit Reis gefüllte Schale gesteckt. Solange die Stäbchen rauchen, wird normalerweise der gestorbenen Eltern in Stille gedacht. Die Brüder und Schwestern nutzen diese Minuten, um sich ihre neu gekauften Handys und Fotos vorzuführen. Sie sprechen über die Preise und übertrumpfen sich gegenseitig mit Empfehlungen für die günstigsten Tarife. Die Eltern stammen aus Shandong und waren Helden im Koreakrieg. Die letzten Jahre haben sie in einer zweistöckigen Kriegsveteranensiedlung gelebt, deren Abriss schon geplant ist, bevor sie vor zwölf Jahren verschieden sind. Die wichtigsten Errungenschaften und Stationen ihrer Lebensgeschichte sind auf der Rückseite des Grabsteines eingraviert, den die Kinder vor sechs Jahren aufgestellt haben. Wenn es möglich wäre und man damals daran gedacht hätte, den Eltern ein Handy mit auf die Reise ins Jenseits zu geben, könnte man ihnen heute per SMS mitteilen, dass sich die sechs Geschwister nicht um die Entschädigung für den Abriss des Hauses streiten werden.
Sohn Drei hat nicht nur ein neues Auto gekauft, sondern auch eine neue gestreifte und glänzende Hose. Ausserdem kämmt er sich die Haare neuerdings nach vorn und sieht dadurch viel jünger aus. Er vermeidet die ganze Zeit den Blickkontakt mit seiner Frau, die vermutet, dass er eine heimliche Beziehung hat. Eigentlich müssten die beiden glücklich sein. Ihre Tochter hat nämlich Anfang des Jahres eine gute Partie gemacht und einen Mann aus wohlhabendem Hause geheiratet. Er arbeitet in Beijing bei Coca Cola. Smog hin, Smog her, eine Arbeit in der Hauptstadt der Volksrepublik, das will schon etwas heissen. Sie hat in seiner Firma auch einen Job bekommen, möchte aber lieber wieder bei der Bank arbeiten. Um einen solchen Arbeitsplatz in Beijing zu finden, müsste man den Arbeitgeber wahrscheinlich mit etwa 100000 Yuan bestechen. Ihre wichtigste Aufgabe bestünde aber seit der Heirat eigentlich darin, schwanger zu werden und für Nachwuchs zu sorgen. Ihr Ehemann nimmt deswegen schon seit Monaten chinesische Medizin. Der Schwiegermutter ist beim Spaziergang mit ihrem kleinen Pudel ein Missgeschick geschehen. Er wurde überfahren und ist daran trotz aller angeblichen Rettungsversuche gestorben. Alle reden so darüber, als würden sie diese Geschichte glauben, obwohl sie genau wissen, dass die Schwiegermutter wegen ihrer Ansicht, dass die Haltung eines Haustieres für eine Schwangerschaft abträglich sei, dem armen Pudel den Garaus gemacht haben könnte. Dass die Eltern ihrer Tochter nun einen neuen Hund gekauft haben, der genauso aussieht, wird sie nicht verzeihen, und es dürfte eine tiefe Kluft zwischen den beiden Familien verursachen.
Als die Räucherstäbchen verglimmen, ist es die Aufgabe des ältesten Sohnes Eins, alle zur dreimaligen Verbeugung aufzufordern. Er ist schon lange geschieden. Sein Sohn wurde von der Mutter aufgezogen und macht seinem Vater das zeitlebens zum Vorwurf, ohne jedoch Worte darüber zu verlieren. Vielleicht hat diese Vernachlässigung ihn dazu angespornt, eine akademische Karriere einzuschlagen. Er lebt in Nanjing, hat dort Wirtschaft studiert, seinen Doktortitel kürzlich erworben, zum Neujahrsfest geheiratet und hätte vielleicht keine feste Anstellung bekommen, wenn er nicht schon vor über zehn Jahren in die Partei eingetreten wäre. Sohn Eins wird als der missratenste und unglücklichste angesehen und deswegen auch von seinen Geschwistern aus Mitleid unterstützt, wo es nur geht. Weil er keinen Job finden konnte, hat ihm sein jüngerer Bruder Sohn Drei den Lieferwagen angeschafft, mit dem er jetzt Transporte in der Stadt durchführt. Durch steigende Benzinpreise wird die Konkurrenz der Elektromobile immer grösser. Wenn er nicht mit seinem Transporter unterwegs ist, spielt er am liebsten Majiang. Das macht Spass und damit kann er auch ein bisschen Geld verdienen. Seit einiger Zeit hat er eine Freundin, die für ihn kocht und Wäsche wäscht. Auch wenn ihn alle Geschwister für dumm halten, weiss selbst er, dass seine Freundin es auf seine Wohnung abgesehen hat. Das Erbe mit einer Stiefmutter teilen zu müssen, wiederum macht seinem Sohn Kopfzerbrechen. Und für die anderen fünf Geschwister fällt dann vielleicht auch ihr Anteil an der Entschädigung geringer aus.
Nach der dritten Verbeugung vor den Eltern zeigt Sohn Drei den Geschwistern einen Platz auf dem Friedhof, wo das Fengshui wesentlich besser ist. Auf indirekte Weise bereitet er seine Brüder und Schwestern auf eine Beteiligung an seiner eigenen Grabstätte vor. Sie haben ihm auch schon die Operation nach seinem Herzinfarkt bezahlt.
Dann gehen alle zum Opferhof, um Papiergeld für die Eltern zu verbrennen. Über einer der rings an der Mauer eingelassenen Feuerstätten werden die Namen der Eltern geschrieben und darunter „erhalten” wie auf einer Quittung. In den Jahren zuvor wurde dem ärmsten Sohn Eins immer das Obst mit nach Hause gegeben.
Diesmal wirft die jüngste Schwester es mit ins Feuer. Sie ist auch schon lange geschieden und wird vermutlich von ihrem Mann unterhalten. Sie muss deswegen nicht arbeiten und bildet sich angeblich ständig weiter. Jedenfalls sammelt sie Zeugnisse, auf welchem Wege sie die auch immer erworben hat. Ihr neustes Hobby sind literarische Ambitionen, die sie regelmässig auf ihrem Blog veröffentlicht. Wahrscheinlich liest das niemand ausser dem engsten Freundeskreis und der Familie. Ihr Sohn hat in Tianjin studiert und arbeitet in Shanghai als Hotelmanager. Er ist schon lange nicht mehr nach Hause gekommen. Dafür hat seine Mutter ihn dort gerade zum Neujahrsfest besucht.
Die Tochter Zwei zeigt den anderen beim Opferfeuer die beschädigten Sohlen ihrer Stiefeletten. Das seien die einzigen Schuhe, die man bei einem solchen Anlass anziehen könne. Überall in der Stadt sei es schmutzig, besonders im Winter, wenn der Wind nicht nur den Sand, sondern auch den Kohlenstaub aus den Heizkraftwerken durch die Stadt wirbelt. Dabei hat sie von allen Geschwistern am meisten Geld. Ihr Mann ist in der Stadt bei der Steuerbehörde sicher nicht nur durch das reguläre Gehalt reich geworden. Davon zehrt sie seit seinem Tod durch Krebs vor vier Jahren. Sie hat das Geld in Wohnungen angelegt, wieviele weiss keiner so genau. Gerade noch rechtzeitig, denn die Regierung reguliert jetzt die Hamsterkäufe auf dem Wohnungsmarkt, um zu vermeiden, dass die Reichen alles aufkaufen, und die Armen sich keine Wohnung mehr leisten koennen. Durch diese Massnahme sind die Wohnungspreise erst recht gestiegen. Ihr Sohn hat in der Provinzhauptstadt studiert und eine Stelle bei der Regierung. Wenn er seine Prüfung als Beamter besteht, wird sein Leben nach Plan ablaufen. Für ihn wird es langsam Zeit, eine Frau zu finden, mit der seine Mutter einverstanden ist, und ebenfalls eine Wohnung zu kaufen, wenn seine Mutter das nicht schon für ihn erledigt hat, dann zu heiraten, einen Enkel zu zeugen und, ja, was kommt dann? Ja, und dann fängt der Ernst des Lebens an, denn ein Kind zu haben, ist die teuerste Anschaffung überhaupt. Und es ist die wichtigste Investition in die eigene Altersabsicherung, die mit der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft immer mehr in Frage steht.
Den Lebensunterhalt, den eigenen, den eines Kindes und schliesslich der Eltern, zu bestreiten, fängt immer noch damit an, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Dazu gehört, den Lebensplan nach den permanent justierten Regeln im kollektiven Bewusstsein der sozialistischen Gesellschaft einzurichten. Mit der neuen Regierung ist der Traum des Bürgers zum chinesischen Traum geworden. Aber träumen reicht nicht mehr, man muss Pläne schmieden. Pläne fuer die Gründung einer eigenen Familie und die Fortsetzung des Stammbaumes. Darin spiegelt sich auch das konfuzianische Prinzip wider. Das ist der ewige Kreislauf des Lebens. Und vielleicht sogar der Natur oder des Erdballs, wie es Massive Attack besungen haben: Big wheel keeps on turning … on a simple lie … day by day. Eine simple Lüge ist eben keine Lüge, sondern das komplexe Theater, das jeder Mensch Generation für Generation und Tag für Tag auf der Bühne der Gesellschaft spielt, um zu leben. 24 Stunden, Tag und Nacht, das ist kein Unterschied, die Erde dreht sich einfach weiter …
Eine deutsche Firma wirbt für die Innenausstattung der Neubauten so: Es werden nicht nur Laminatfussböden und Küchen verkauft, sondern ein Life Style vermittelt. http://www.tudou.com/programs/view/OCIEyVRSewA/
Der pausenlose Kiestransport der Lastwagen führt an alten Grabhügeln am Flussbett vorbei, wo vor noch nicht allzu langer Zeit in der Erde bestattet wurde.