stecken Stab sehen Schatten

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foto_01Xiaoshanzi2013 alias Piet Trantel – 17. Juli 2013

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立竿见影 – stecken Stab sehen Schatten

Das ist der Spruch oder das Sprichwort, das mir meine Frau mit auf den Weg nach Tosterglope gegeben hat. Daran will ich mich jeden Tag halten, denn sie ist in jeder Hinsicht meine beste Lehrerin, auch wenn es manchmal eine harte Schule ist. Wenn man nicht mehr der jüngste ist, vergisst man alles, was man gerade gelernt hat, wieder sehr schnell. Und dann heisst es wiederholen, wieder von vorn anfangen, von neuem lernen, üben, üben und nochmal üben. Das ist manchmal auch für den Lehrer eine Strafe.

Was für eine Lehre wollte mir denn nun meine beste Lehrerin mit dem Sprichwort auf den Weg geben? 立竿见影 bedeutet auf gut deutsch: Wenn man nur erst einmal etwas anfängt, dann kann man sofort Ergebnisse sehen.

hutstab_233_kDas wollte sie dem Projekt von Haus zu Haus wünschen. Und es klingt doch sehr ermutigend, ein wenig anders als unser R&ST Slogan, dass man schon genug zu tun hat, wenn man etwas anfängt. Wenn man den Spruch beim Wort nimmt, dann ist es ein Bild, das man sich wie einen frisch gepflanzten Bambus vorstellen kann, der so schnell, wie er gewöhnlich wächst, auch schon einen kühlen Schatten wirft. Erinnert das nicht an die lauschigen Szenen der Impressionisten bei einem schattigen Frühstück im Park? Ich sehe in ihren Gemälden Stills aus den ersten Filmen, als diese Technik noch gar nicht entwickelt war, die Gesellschaft sich jedoch schon so weit spezialisiert hatte, dass es die ersten Konsumenten eines solchen medialen Entertainments gegeben hätte. Das Bedürfnis, unterhalten zu werden, also bereits vorhanden war, wenn auch nicht in breiten Massen.

立竿见影, das könnte auch heissen: Stecke einen Stab in die Erde, und du siehst einen Schatten. Eine einfache Handlung kann durchaus eine künstlerische Performance sein, auch wenn man selbst sein einziger Zuschauer ist. Und es ist zugleich ein Film. Denn Film ist nichts anderes als Schatten, auf einer transparenten Folie, auf einem Magnetband oder eben digital. Und so wird dieses moderne Wort im heutigen Chinesisch auch immer noch mit den alten Zeichen 电影 geschrieben, also elektrischer Schatten, wobei der Strom ein Wetterphänomen ist und über dem Schatten auch die noch Sonne ein wenig versteckt schwebt.

Jeden Tag, wenn ich den Stab in die Erde stecke, erinnert mich der Schatten daran, dass es etwas zu lernen gibt. Oder wie ein artist in residency Kollege es einmal formuliert hat, als wieder etwas schief gegangen war: live and learn. Dazu gehört natuerlich auch jemand, der sein Wissen und Können, seine Erfahrung und Ansichten weitergibt. Die Rollen sind dabei im Bildungssystem ziemlich eindeutig verteilt, wie so viele andere Aufgaben in der Gesellschaft auch. Als Lehrkraft an der Universität bilde ich Studenten (in meinem Fach aus). Die Studenten lernen fleissig und bezahlen dafür ihre Gebühren. Und weil so ein Studium sehr teuer ist, sorgt das System schon von Beginn an für eine entsprechende Selektion. Wer arm ist, soll auch arm bleiben, nichts lernen oder erst gar keine Kinder bekommen. Aber während ich lehre, lerne ich heimlich natürlich auch jede Menge, mit dem Unterschied zu meinen Studenten, dass ich dafür bezahlt werde. So eindeutig ist die Rollenverteilung nämlich oft nicht, wenn man hinter die Kulissen schaut.

Inzwischen bin ich mit dem Spruch meiner Lehrerin auf dem Stab in Ventschau, Köhlingen, Horndorf und Tosterglope angekommen. Tag für Tag wird irgendwo in der Samtgemeinde Schatten geworfen. Dieser Stab ist übrigens nicht irgendein Stab, sondern war einmal die Harpune, mit der mein Freund und ich als Kinder auf Bisamrattenjagd gegangen sind. Uns war zu Ohren gekommen, dass die Tiere in den Gräben der Marsch hausten. Die Leute im Dorf hielten sie für eine Plage, und es war sogar die Rede von einer Schwanzpraemie. In der Werkstatt hatten wir eine Harpunenspitze gefunden, die kurzerhand auf eine Bohnenstange gepflanzt wurde. Fertig war das Jagdgerät. Aus aa74kubistischestudie2_kBohnenstangen habe ich dann Jahre später meine ersten Keilrahmen gebastelt, darauf Jute aus Kartoffelsäcken genagelt und gemalt wie die Kubisten. Das war der Anfang meiner “nutzlosen” Malerei auf dem elterlichen Bauernhof. Aber so wie ich es heute sehe, könnte die erfolglose Jagd auf Bisamratten auch das erste gescheiterte Filmprojekt gewesen sein. Wenn nur irgendjemand die Schatten eingefangen hätte. Aber so ist es mit dem Schatten. Die Erde dreht sich unaufhörlich weiter, und die Sonne scheint sowieso.

Leider isgeweihe_551_kt diese alte Bohnenstange im Laufe der Jahre morsch geworden, von Holzwürmern angefressen, und beim x-ten Aufstellen abgebrochen. Das hat auch dem Schatten Abbruch getan. Ein neuer Stiel musste her. Gefragt, getan. Ich habe Jan-Christoph gefragt, ob er nicht irgendeinen Stock hätte, den man als Schattenwerfer verwenden könnte. Beim Rundgang über den Hof haben wir einen alten angeknacksten Forkenstiel gefunden, gerade gut genug für den täglichen Schatten, mit dem in Köhlingen Ergebnisse sichtbar machen könnte. Dabei hat mir Jan-Christoph von der Einstellung der “Demeter-Leute” berichtet, dass die Hörner der Kühe gewissermaßen ihre Antennen zum Kosmos seien. Sehr interessant. Ich hatte die Hörner, die den meisten Kühen heutzutage schon als Kalb abhanden kommen, immer für den Ausdruck ihrer Gedanken gehalten. Angeblich soll das Futter sogar Einfluss darauf haben, ob sie nach unten oder oben wachsen. In meinen Augen gingen den Stieren der Camargue oder den Hirschen im Wald immer ganz andere Dinge durch den Kopf als den Milch- oder Mutterkühen in der Elbtalaue. Wer weiss noch, ob die gute Yvonne, die vor zwei Jahren ausgebüxt war und sich im Wald versteckt hielt, eigentlich Hörner hatte?

Aber jeder andere im Dorf hat auch seine Lebensgeschichten. Und man kommt darüber leicht ins Gespräch und kann dabei soviel lernen. Das ist in der Stadt vielleicht nicht anders, aber meistens verbunden mit einer kommerziellen Handlung.

Lütjens z.B. weisen auf die Schaukel an einem Ast der Eiche hin, die ja selbst noch viel mehr aus ihrem über 800-jährigen Leben erzählen könnte, wenn sie sprechen würde. Oder wenn wir ihre Sprache verstehen würden. Daran gemessen, ist der Dreissigjährige Krieg, in dem sieben andere Höfe in Köhlingen abbrannten, jüngste Vergangenheit.

Volker Weber ist der Experte, wenn es um die Dorfchronik geht. Er kennt alles und jeden im Dorf besser als seine eigene Familie. Und seine plattdütschen Geschichten nehmen kein Ende, wenn er erst einmal mit einer anfängt und seine Zuhörer damit einfängt.

Nicole weiss, wie man mit störrischen Eseln umgeht. Das ist eine der wichtigsten Lektionen auf dem Dorf, die mir gleich zu Beginn erteilt wurde. Ich weiss jetzt auch, wie man einen Esel an der Leine führt, ohne einen Tritt vors Schienbein zu riskieren.

buecher_198_kDavid zeigt uns, dass der alte Badeteich in Ventschau noch längst nicht ausgedient hat. Man kann darin baden oder sich mit einem Freund im Schlauchboot darauf treiben lassen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

Der liebe Gott vermisst im Dorf genauso wie einige seiner Bewohner die Kirche. Brigitte hat sich des Problems auf ihre Weise angenommen und die Bushaltestelle zu einem Treffpunkt umgestaltet. Dort gibt es jetzt ein Regal mit “Büchern auf Reisen” und einen Schirm, wenn es mal in Ventschau-Mitte regnet.

Andreas hält es für das geringste technische Problem, auch die Wurzeln der gefällten Pappeln heraus zu fräsen. Dann wäre es viel bequemer, das Gras hinter dem Schweinestall für die Gemeinde zu mähen. Wir hingegen könnten uns auch einen Baumstumpf als Träger für einen Unterstand der zukünftigen Haltestelle vorstellen. Hier fährt bestimmt hin und wieder ein Trecker, ein Auto oder ein Fahrrad vorbei. Das könnte doch die Aufgabe des öffentlichen Verkehrs anstelle des fehlenden Busses übernehmen.

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Andre hat uns gezeigt, wie man ins Schwitzen kommt, wenn man auf dem Dachboden ein Schlagzeug aufbaut. Seit 40 Jahren hat er nicht mehr gespielt, aber offensichtlich noch nichts vergessen. Der 3/4-Takt sitzt. Von Peter, eins zwo, eins zwo, habe ich gelernt, dass eine ordentliche Band eine Fr(onts)au braucht. Das ist jemand, der vorne steht und ins Mikrophon kreischt, am besten eine Frau.

Michael hat inzwischen schon etliche Male mit dem Finger auf dem Messtischblatt den Wald- und Wiesenweg erwandert, auf dem man von Ventschau über Tosterglope nach Horndorf laufen kann. Höchste Zeit für einen Forschungsspaziergang. Alle sind herzlich eingeladen.

Wenn ich nach alldem meinen ersten Eindruck vom Leben und Lernen in Tosterglope auf eine kurze Formel bringen sollte, würde ich jetzt sagen: “Das ganze Dorf ist die Schule.” Jeder wirftt seinen Schatten, ist Lehrer und Schüler zugleich. Hier gelten die Regeln der spezialisierten Gesellschaft nur bedingt. Jeder kann alles ein bisschen, und manches sehr gut. Wie Künstler. Am besten ist es eben, wenn man so viel wie möglich selbst macht. Denn kaufen kann jeder. Das wäre das geringste Problem. Und ein solches Leben weitaus bequemer in der Stadt.

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