Unschärferelation

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foto_01Xiaoshanzi2013 alias Piet Trantel – 15. August 2013

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Uncertainty Principle – 确定性原理 Unschärferelation

Richtig gut aufgelöste Abbildungen von Michael Heizer’s Circular Surface Planar Displacement Drawing aus dem Jahre 1970 habe ich im Internet nicht gefunden. Die Spuren, die er damals mit einem Rennmotorrad in den Jean Dry Lake in der Wüste Nevadas zeichnete, sind natürlich längst verwischt, aber sie könnten heutigen Künstlern, die mit anderen Medien arbeiten, noch als Grundlage zu einem Entwurf für ein Gartenkunstwerk oder einen Wandteppich oder ein Weltkarte dienen. Vielleicht spiele ich aber nur selbst mit solchen Gedanken, seit ich die Zeichnung kenne.

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Michael Heizer’s Circular Surface Planar Displacement Drawing, 1970

Kreise sind weder abstrakt, noch real, weder mimetisch, noch konkret, sondern einfach Formen, ja Dinge. Das Rennmotorrad fährt in der Wüste. Wohin? Links, rechts oder geradeaus? Im Kreis zu fahren, beinhaltet alle Richtungen zugleich. Die sphärische Oberfläche der Erde wird von den Reifen angekratzt, sie graben sich in den Sand hinein, sie zeichnen oder schreiben in die Trockenheit der Wüste. Schrift, Graffiti, Relief, Street Art, Land Art, Nature Art, Performance, Fotografie, was hat hier stattgefunden? Was ist geblieben? Der Fahrer, das Rennmotorrad, der Motor, die Reifen dienten als Arbeits-, Zeichen- oder Schreibgerät. Die kreisförmigen Reifenspuren rücken von Mal zu Mal an einen anderen Ort, sie werden leicht verschoben, sind deplaziert. Die Kreise haben kein Ziel, sie führen auf sich selbst zurück. Und stehen in Beziehung zueinander.

Mich hat an dieser ephemeren Darstellung von Kreisen in der Fläche immer deren Verhältnismäßigkeit fasziniert:

1. der große Kreis liegt neben einem kleinen, et vice versa

2. der große Kreis wird von einem kleinen von aussen berührt, et vice versa

3. der große Kreis wird von einem kleinen von innen berührt, et vice versa

4. der große Kreis wird von einem kleinen geschnitten, et vice versa

(und die beiden folgenden Beziehungen fehlten mir in dieser Reihe)

5. der große Kreis umfasst einen kleinen (vielleicht ist der jedoch so klein, dass er nicht mehr sichtbar ist)

6. der große Kreis wird von einem noch größeren umfasst (vielleicht ist der jedoch so groß, dass er nur nicht sichtbar ist)

Heizer’s Drawing war für mich ein Modell, das Beziehungen von Kreisen sichtbar macht. Seine Flächigkeit und Einfachheit lassen es überschaubar und leichter verständlich wirken.

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Tostergloper Unschärferelation vor dem alten Schweinestall in Köhlingen, 2013

Für die Darstellung der Beziehungen, die die Ortsteile der Samtgemeinde Tosterglope zueinander haben, wollte ich Michael Heizer’s Drawing zugrunde legen. Als wir unseren Stand von Haus zu Haus während der Sommer Werkstätten in Köhlingen aufgebaut hatten, habe ich Andreas Wenk nach einem alten Bettbezug gefragt, der möglichst weiß sein und kein Muster haben sollte. In dem alten Haus seiner Eltern ist er schnell fündig geworden und hat ihn uns ohne Umschweife gestiftet. Sofort wurde der Bezug auf die Wäscheleine gehängt, Pinsel und Farben standen schon bereit. Auf der Skizze sollten die Ortsteile nicht nur in Lage und Größe im Verhältnis zueinander stehen, sondern darüber hinaus auch in Aktion miteinander treten, um zu zeigen, wie kompliziert das Geflecht der Beziehungen allein schon zwischen vier kleinen Dörfern sein kann. Für derartige Aktionen schien mir im Hinblick auf unser Projekt die gegenseitige Wahrnehmung der Ortsteile und ihrer Bewohner geeignet. Die Komposition von Heizer’s perfomativem Land Art Piece sollte ein Wahrnehmungsmodell von Tosterglope werden.

Der größte Kreis steht für die Samtgemeinde, die anderen repräsentieren die Ortsteile. Die geographische Lage aller Kreise ist aus kompositorischen Gründen verschoben (once again displaced).

Jeder Kreis in diesem Modell ist ein Wahrnehmungsorgan. Das Modell veranschaulicht den komplexen und ambivalenten Prozess der Wahrnehmung auf visuelle Weise. Das heißt jedoch nicht, dass die gegenseitige Wahrnehmung der Kreise auf optische Reize reduziert ist. Jeder Kreis könnte also der Einfachheit halber als Auge interpretiert werden. Der Fokus befindet sich innerhalb des Kreises, nicht aber notwendigerweise im Zentrum. Jeder Kreis sieht so vom Fokus aus durch den Kreisring hindurch andere Objekte und stellt diese dabei auf seinem Ring dar. Dabei hat er zunächst eine Grund- oder Ausgangsfarbe, die sich aus einer spontanen Befragung ergeben hat. Demnach ist die Samtgemeinde als Folge der Gemeindereform grau, Tosterglope wegen der Feuerwehr rot, Köhlingen mit seinen drei Höfen grün, Ventschau wegen des Badesees blau, und für das Gut Horndorf und die Siedlung blieb gelb, passend zu einer Geschichte bei der es um Maisanbau ging. Wenn nun ein Kreis in alle Richtungen schaut, sieht er andere Kreise oder Teile davon in anderen Farben. Sein Ring (Netzhaut) verfärbt sich dabei entsprechend der Grundfarben der gesehenen Objekte. Durch diesen Wahrnehmungsvorgang wird an all den Stellen im Kreisring, wo er etwas sieht, seine Grundfarbe geändert. Wenn nun wiederum ein anderer Kreis ihn wahrnimmt, sieht jener nicht mehr nur ein einfarbiges Objekt, sondern die eingetretenen Veränderungen auf dessen Netzhaut, einen bunten Kreisring, ein fremdes durch Färbung verändertes Wahrnehmungsorgan (Auge). In einem Abschnitt des wahrgenommenen Kreises sieht er unter Umständen sogar seine eigene Grundfarbe (sich selbst).

Die Wahrnehmungsvorgänge aller Kreise finden natürlich gleichzeitig statt, aber der Übersicht halber werden sie zeichnerisch nacheinander ausgeführt, so wie auch Heizer mit seiner Rennmaschine nacheinander mehrere Kreise gezogen hat, obwohl Verkehr insgesamt ja ein globaler Vorgang ist, an dem gleichzeitig unzählige andere Menschen beteiligt sind. So wird durch jeden Wahrnehmungsprozess das Modell immer komplexer, farbiger, feinteiliger und unschärfer. Die Wahrnehmer und das Wahrgenommene (die Wahrnehmung) scheinen hierbei den Gesetzen der Energieumwandlung zu folgen und dabei mit jedem Schritt den Grad der Entropie zu erhöhen, also nutzlose Energie (oder Wahrnehmung) frei zu setzen. Das Modell kann als Plan für den Prozess der gegenseitigen Wahrnehmung von Menschen oder kleiner communities, der ganzen Gesellschaft, des (Strassen- oder Daten-) Verkehrs oder des nicht nur menschlichen Lebens schlechthin gelesen werden. Und es gehorcht zudem der Heisenbergschen Unschärferelation, nach der Ort und Impuls eines Gegenstandes nicht gleichzeitig genau gemessen werden können. Die Ungenauigkeit im Tostergloper Modell besteht darin, dass Wahrnehmende, Wahrgenommenes und Wahrnehmung nicht kongruent sind. Was man sieht, wird allein schon durch das Sehen bereits anders.

Soweit das einfache Modell, das bereits komplexe Beziehungen veranschaulicht.

Nun stelle man sich vor, die Kreise oder Wahrnehmungsorgane seien Kugeln oder beliebig geformte dreidimensionale Körper, die sich ständig und unregelmäßig im Raum bewegen. Im Vergleich dazu wäre dann unsere Vorstellung von Sonne, Mond und Sternen und all ihren beobachtbaren Phänomenen noch eine recht leicht überschaubare Angelegenheit. Unsere Vorstellungskraft und Darstellungsmöglichkeiten würden schnell an ihre Grenzen angekommen. Wir würden das Modell ebenso wenig verstehen wie die Wirklichkeit.

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Tostergloper Unschärferelation als Projekt der ILennale 2013 – 2062

Und genau an diesem Punkt scheint mir die Samtgemeinde Tosterglope beim Dorffest am 27. Juli angekommen zu sein. Ich hoffe nun, dass niemand sich scheut, die gegenseitige Wahrnehmung fortzusetzen, auch auf die Gefahr hin, dass man andere oder das Ganze nicht versteht oder selbst nicht mehr verstanden wird.

 

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